topeins 1/2022

GESUND BLEIBEN 27 1 | 2022 top eins Z ählen Sie Reiskörner, bevor Sie ins Theater gehen? Nein? Sollten Sie aber – so die Überzeugung der Künstlerin Marina Abramovic, die die sogenannte Abramovic-Methode entwickelte. Diese bereitet Musikbe- geisterte über mehrere Stunden auf den Besuch eines klassischen Konzerts vor. Sieben Übungen gibt es, darunter eben Reiskörner zählen. Das Ziel: den Alltag vergessen. Denn um Musik wirk- lich zu erfahren, müsse man zunächst die Last des Lebens hinter sich lassen, meint die Künstlerin. Stress verbraucht mentale Ressourcen Mit Stress und ästhetischem Emp- finden beschäftigt sich auch ein For- schungsteam der Psychologie um Pro- fessor Dr. Thomas Jacobsen und Rosalie Weigand an der Helmut-Schmidt-Uni- versität in Hamburg. Bei mehreren Un- tersuchungen stellte das Team einen umgekehrten Zusammenhang zwi- schen Stress und ästhetischem Emp- finden fest: Je höher das Stresslevel ei- ner Person ist, desto weniger intensiv nimmt sie Ästhetisches wahr. Sie kann beispielsweise ein Teaterstück oder die Lektüre eines Romans kaum genießen. Die Ursache liegt in der begrenzten Ver- arbeitungskapazität unseres Gehirns. „Wenn eine Person sich gedanklich mit beruflichen oder privaten Dingen be- schäftigt, belastet dies ihr Arbeitsge- dächtnis“, erklärt Thomas Jacobsen. Die involvierten Kapazitäten fehlen dann, umästhetische Eindrücke zu verarbeiten. „Ob beimBetrachten von Kunstwerken, einer Oper- oder Theateraufführung: Der Genuss steigt mit denmentalen Ressour- cen, die ich dabei einsetze“, fasst Jacob- sen den Effekt zusammen. Daraus leitet sich die Frage ab: Ist es überhaupt sinnvoll, einem gestressten Kollegen zu raten, abends bei ein biss- chen Musik zu entspannen? Oder der Kollegin nach einem nervenaufreiben- den Arbeitstag einen Kinobesuch als Ausgleich zu empfehlen? „Die Tiefe der Verarbeitung ist dabei entscheidend“, so Jacobsen. „Je komplexer die Inhalte, desto mehr mentale Ressourcen muss ich aufbringen, um sie zu verarbeiten. Bei komplexen Werken ist erst dann der volle Genuss gegeben, wenn ich sie ge- danklich durchdrungen habe.“ Nach einem harten Tag sind daher eher seich- te Inhalte geeignet. Sie erfordern eine geringere Verarbeitungstiefe und be- lasten das Arbeitsgedächtnis weniger. Erst entspannen, dann ins Theater Beschäftigten, die nach der Arbeit ins Museum möchten oder sich bereits auf einen anspruchsvollen Roman freu- en, rät der Psychologe: „Sich mit Ent- spannungstechniken auf eine solche Feierabendbeschäftigung vorzuberei- ten, ist vermutlich sinnvoll. Das wollen wir mit weiteren Studien untersuchen.“ Auch wenn der empirische Beleg noch aussteht, können Beschäftigte die Er- kenntnisse nutzen. Zum Beispiel, in- dem sie nach einem langen Arbeitstag nicht direkt ins Theater fahren, sondern zunächst durch Sport, Meditation oder Atemübungen Abstand gewinnen – es müssen ja nicht gleich alle Übungen der Abramovic-Methode sein. Zur Studie: doi.org > Suchbegriff: 10.1371/ journal.pone.0248529 Das Schöne genießen Ästhetik und Kunst können uns von der Hektik des Alltags ablenken – doch nicht unter allen Umständen. Warum das so ist und was wirklich hilft, um abzuschalten, zeigt eine aktuelle Studie. VON ISABELLE RONDINONE St ress und Ästhet ik KLICKTIPP Zu viel Stress am Arbeitsplatz kann krank machen. Der Film „ Stress, lass nach “ benennt auf humorvolle Weise die häufigsten Auslöser von arbeitsbedingtem Stress – und wie sie sich vermeiden lassen. publikationen.dguv.d e Webcode: p 012299 Adobe Stock/Ardea-studio

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