Gesundheitsschutz : Nicht um jeden Preis zur Arbeit: Präsentismus vermeiden
Eine Bürokraft geht trotz Fieber und Gliederschmerzen zur Arbeit, eine Pflegekraft beginnt ihre Schicht, obwohl sie starke Kopfschmerzen quälen: Präsentismus – laut Definition das Phänomen, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen oder im Homeoffice zu arbeiten – ist in Deutschland keine Seltenheit. Laut DGB-Index „Gute Arbeit“ haben im Jahr 2024 immerhin 63 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal gearbeitet, obwohl sie sich „richtig krank“ fühlten. Fast die Hälfte aller vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Befragten (44 Prozent) war trotz Krankheit länger als eine Woche im Einsatz. Besonders häufig betroffen waren Frauen mit 67 Prozent – im Vergleich zu 59 Prozent der Männer.
Am stärksten ausgeprägt ist Präsentismus der Erhebung zufolge in Reinigungs-, Lehr- und Erziehungsberufen sowie im Gesundheitswesen. Bei einer Befragung ein Jahr zuvor durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) fielen die Zahlen etwas niedriger aus, doch auch hier waren es 54 Prozent, die mindestens einmal krank gearbeitet haben.
54 %
der Beschäftigten haben im Jahr 2023 trotz Krankheit gearbeitet.
Quelle: BAuA-Arbeitszeitbefragung 2023
Präsentismus: Arbeiten statt auskurieren
„Wenn Menschen krank zur Arbeit gehen, steckt dahinter meist mehr als nur Pflichtgefühl“, sagt Anja Mücklich, Referentin am Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG). Häufig sei es eine Kombination aus persönlichen, organisationalen und arbeitsbezogenen Faktoren, die zu diesem Verhalten führen: etwa zu viel Arbeit in zu wenig Zeit, der Umgang mit vielen und schwierigen Kundinnen und Kunden, eine dünne Personaldecke oder ungelöste Spannungen im Team. Auch starre Anwesenheitsregeln könnten den Druck erhöhen, nicht ausfallen zu wollen.
„Aber auch das, was wir als positiv wahrnehmen – etwa eine hohe Identifikation mit dem Job oder eine starke Bindung ans Unternehmen –, kann dazu führen, dass Beschäftigte die Symptome einer Erkrankung einfach übergehen“, so Mücklich. „Auch virtueller Präsentismus im Homeoffice ist ein Thema – und erfordert gezielte Maßnahmen.“ Bereits 2022 ergab eine Studie der Techniker Krankenkasse, dass Beschäftigte im Homeoffice häufiger zu diesem gesundheitsgefährdenden Verhalten neigen.
Präsentismus beeinträchtigt allerdings nicht nur die Gesundheit der Betroffenen – etwa wenn Krankheiten nicht richtig ausheilen oder sich die Genesung verzögert. Auch die Betriebe und das Kollegium sind von den Folgen betroffen. „Präsentismus kann für Unternehmen mit Kosten verbunden sein – etwa durch eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Fehler und Unfälle“, führt Anja Mücklich aus. Zudem besteht bei Infektionserkrankungen die Gefahr, andere anzustecken.
Klicktipp
Fakten zu Präsentismus liefern die iga-Publikation „Präsentismus: Verlust von Gesundheit und Produktivität“
Einfluss der Führungskräfte
Das Phänomen Präsentismus ist sehr komplex. „Präventionsmaßnahmen sollten daher darauf abzielen, den Präsentismus sowie auch sein Gegenteil – den Absentismus, also die krankheitsbedingte Abwesenheit – zu verringern, das heißt auf die Stärkung und den Erhalt von Gesundheit hinzuwirken“, so die IAG-Referentin. Hierfür ist ein systematisches Gesundheitsmanagement, das auch auf die Strukturen, Rahmenbedingungen und Prozesse im Betrieb ausgerichtet ist, unerlässlich. Wirksame Prävention beginnt zudem mit der Beurteilung der Arbeitsbedingungen – einschließlich psychischer Belastungsfaktoren. Auch das Verhalten der Vorgesetzten hat Einfluss. So ergab die BAuA-Arbeitszeitbefragung von 2023, dass Beschäftigte weniger zu Präsentismus neigen, wenn sie von Führungskräften häufig unterstützt werden.
Unternehmen und Einrichtungen, die Präsentismus verringern möchten, sollten zudem die organisationale Sicherheits- und Gesundheitskompetenz verbessern. Dazu gehört ein konstruktiver Umgang mit Fehlzeiten im Unternehmen, sichere Arbeitsverträge, eine angemessene Vergütung sowie personelle, zeitliche und materielle Ressourcen. Auch empfiehlt sich die gezielte Förderung der individuellen Gesundheitskompetenz, also der Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen und Maßnahmen zur Prävention zu verstehen. Auf Basis einer verankerten Sicherheits- und Gesundheitskultur im Unternehmen können Beschäftigte leichter gesundheitsgerechte Entscheidungen treffen.
Präsentismus vorbeugen
- Führungskultur weiterentwickeln: Workshops, Gespräche oder Gesundheitsrunden in Unternehmen und Einrichtungen fördern eine offene Führungskultur, die Beschäftigte einbindet
und stärkt. - Führungskräfte gezielt schulen: In Schulungen und Workshops lernen Führungskräfte, ihre Teams wirksam zu unterstützen – für mehr Motivation, Zufriedenheit und Gesundheit.
- Gesundheit als Führungsaufgabe begreifen: Gute Führung braucht klare Aufgabenverteilung, realistische Zeitvorgaben und Gesprächsbereitschaft – mit Rückhalt der Unternehmens- oder Einrichtungsleitung.
- Gesundheit im Unternehmen, der Einrichtung verankern: Ein Leitbild oder eine Betriebsvereinbarung zum Thema Gesundheit schafft Orientierung, Vertrauen und Verbindlichkeit.
- Vorbild sein: Führungskräfte sollten selbst nicht krank arbeiten. So schützen sie nicht nur die eigene Gesundheit, sondern setzen auch ein wichtiges Signal an ihre Mitarbeitenden.
Klicktipp: Präsentismus und Arbeitsbedingungen im BAuA: Bericht kompakt von 2025
Gesunde Unternehmenskultur fördern
Eine gesunde Unternehmenskultur baut auf Wertschätzung und Vertrauen. Offene, angstfreie Gespräche sind dafür ebenso nötig wie ein unterstützender Führungsstil. Beschäftigte brauchen Handlungsspielraum, und die Anforderungen ihrer Tätigkeit sollten zu ihrer Qualifikation passen. Aufgaben sollten klar zugeschnitten sein, Leistungs- und Terminvorgaben realistisch bleiben. Vorgesetzte sollten außerdem vorausschauend planen und mögliche Krankheitsausfälle von vornherein mitdenken. Im Krankheitsfall hat die Genesung Vorrang; dazu braucht es Vertrauen beim Umgang mit Krankmeldungen und eindeutige Vertretungsregelungen.
Damit Führungskräfte all das umsetzen können, benötigen sie die Rückendeckung der Leitung. Deshalb sollte die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bestenfalls als Unternehmensziel festgeschrieben werden.