Arbeitssicherheit : Barrierefrei unterweisen ohne Verständnisprobleme
Brasilien, Frankreich, Spanien oder Irak, Iran, Ägypten, Syrien oder Polen – im Labor des Instituts für Immunologie der Universitätsmedizin Greifswald arbeiten Menschen aus vielen Ländern zusammen. Und sie alle müssen von Institutsleiterin Prof. Dr. Barbara Bröker in Sicherheitsfragen so unterwiesen werden, dass die Inhalte auch wirklich von allen verstanden werden. Denn in derart internationalen Teams müssen eventuelle Sprachbarrieren bedacht und aufgefangen werden, um Sicherheit zu garantieren. Bröker arbeitet dafür mit zweisprachigen PowerPoint-Folien und Beispielbildern. Das sorgt für sprachliches Verständnis – aber noch nicht für tatsächliche Barrierefreiheit. Barrierefreiheit in divers aufgestellten Teams bedeutet vielmehr, dass alle die ihnen zustehende Berücksichtigung und Beachtung finden.
So hilft Barrierefreiheit nicht nur Menschen, die auf Sprachbarrieren stoßen, sondern auch Beschäftigten mit eingeschränkten Hör-, Seh- oder kognitiven Fähigkeiten. Technisch und inhaltlich angepasste Unterweisungen unterstützen sie dabei, ein selbstbestimmtes und sicheres Arbeiten zu gewährleisten.
In Brökers Labor arbeiten bis zu 20 Mitarbeitende aus der ganzen Welt zusammen – mal temporär, mal langfristig. Vom Bachelorstudenten bis zur langjährigen Labormitarbeiterin teilen sich alle die Arbeits- und Laborplätze. „Für uns ist es hilfreich, dass wir hier in der Forschung mit Deutsch und Englisch alle Mitarbeitenden erreichen. Aber es braucht mehr. Ein aufmerksames Zusammenspiel aus Struktur und Verständnis.“ Als Laborkoordinatorin setzt Bröker daher auf präzise Unterweisungen, thematische Wiederholungen, Training am Laborplatz und eine klare Rollenzuteilung. Aber genauso wichtig für reibungslose Abläufe sind die kollegiale Zusammenarbeit, eine offene Gesprächs- und Fehlerkultur sowie Geduld.
Das Warum verstehen
Klare Strukturen in den Unterweisungen machen die Inhalte verständlich und nachvollziehbar. Fängt jemand neu im Institutslabor an, werden individuelle Einzelunterweisungen durchgeführt, gefolgt von regelmäßigen Wiederholungsunterweisungen in verschiedenen Feldern der alltäglichen Arbeit – durchgeführt immer von denselben Mitarbeitenden mit besonderer Erfahrung und Expertise. Die großen Unterweisungen, die mindestens einmal jährlich stattfinden müssen, hält Bröker selbst. Dabei setzt sie nicht nur auf Zweisprachigkeit, einfache Sätze und Bebilderung. Es geht ihr auch um die Vermittlung der Relevanz der erklärten Regeln. „Beispiele aus dem alltäglichen Leben helfen, das Warum der Maßnahmen zu verstehen. Wir arbeiten mit Bakterien und einer gewissen Infektionsgefahr. Also setze ich Bakterien und richtiges Desinfizieren damit in Verbindung, dass später zu Hause das Essen der Kinder angefasst wird. Das verdeutlicht die Relevanz.“
Keine Einbahnstraße
Aus Sicherheitsgründen müssen manche Regeln wie etwa ein Lebensmittelverbot im Labor konsequent eingehalten werden. Verstöße dagegen werden sanktioniert. „Bisher musste ich zum Glück noch kein Laborverbot aussprechen – die Regel wird befolgt“, sagt Bröker. Gleichzeitig ist es der Immunologin wichtig zu betonen, dass eine offene Fehlerkultur und Kommunikationsatmosphäre am meisten zur Barrierefreiheit in der Arbeitssicherheit beitragen. „Alle müssen wissen, dass sie immer nachfragen dürfen und an wen sie sich wenden können. Niemand muss Angst vor Kritik haben, wenn mal etwas schiefgeht. Wenn immer ein offenes Ohr da ist, fühlt sich auch niemand alleingelassen.“
Funktionale Kommunikation benötigt eine organisierte Informationskette und Gesprächskoordination. Alle im Team müssen ihren Zuständigkeitsbereich und die richtige Ansprechperson kennen, wenn etwas unklar ist oder jemand Kritik äußern möchte. Denn auch das ist Barrierefreiheit: Feedbackmöglichkeiten in jede Hierarchierichtung.
Faktoren und Ablauf barrierefreier Unterweisungen, um Sprachdefizite auszugleichen
Individuelle Bedarfe mit der Zielgruppe klären und Anpassungen erarbeiten:
→ Verschiedene Kanäle nutzen: Sprache (schriftlich, verbal) und visuelle Medien (Bebilderung, Videos, Piktogramme).
→ Praktische Veranschaulichung (am Praxisbeispiel zeigen und zeigen lassen)
→ Mehrsprachige Übersetzungen (vorher von Fachleuten oder der Zielgruppe selbst prüfen lassen)
→ Kurze, einfache Sätze (evtl. sogar in Leichter Sprache)
→ Zwei-Sinne-Prinzip: Mindestens zwei der drei Sinne Hören, Sehen und Tasten ansprechen, um mögliche Defizite auszugleichen.
In der Umsetzung:
→ Zeit lassen und mehr Zeit einplanen, um Überbeanspruchung zu vermeiden.
→ Kleinere Gruppen
→ Teilnahme von einer (allen Beteiligten bekannten) Vermittlungsperson/Ansprechperson, die beide Sprachen spricht (z. B. Sicherheitsbeauftragte, Teamlead-Verantwortliche)
→ Keine reine Vortragssituation, lieber in Gesprächsatmosphäre für Austausch sorgen.
Danach und dauerhaft nachfragen:
→ Feedback einholen (auch von anderen Mitarbeitenden, Sicherheitsbeauftragten etc.).
→ Geschehene Fehler und Beinahefehler frei von persönlicher Wertung ansprechen.
Evaluieren und wenn nötig:
→ Neue Verantwortliche benennen oder Aufgaben anders verteilen.
→ Kollegiale Peer-Systeme oder Paten-Programme einrichten.
Weniger zu empfehlen:
→ Untertitel: Erfordern zu viel Multitasking. Entweder lesen oder hören – nicht simultan. Nacheinander wäre im Zwei-Sinne-Prinzip denkbar.
→ Reine Online-Unterweisungen/Vortragssituation: Keine Interaktion, erschwert die Wissensaufnahme und die Verständnisprüfung.
→ Zu spontane Unterweisungen mit neuem Inhalt (spontane Unterweisungen etwa wegen eines Beinahenunfalls sind hingegen sinnvoll)
Das bestätigt auch Jürgen Meß, Leiter des Sachgebiets Barrierefreie Arbeitsgestaltung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Wenn Mitarbeitende mit besonderen Bedarfen, etwa wegen herkunftsbedingter Verständigungsprobleme, selbst erklären können, was ihnen bei Verständnisfragen fehlt oder helfen würde, verstärkt das ihr Wirksamkeits- und Zugehörigkeitsempfinden und motiviert – zumal Führungskräfte zwar die Verantwortung für alle Beschäftigten tragen, aber als Einzelperson oft nicht die Zeit haben, auf alle gesondert zuzugehen. Auch Beschäftigte sollten also die Möglichkeit haben, Bedürfnisse oder Verbesserungsvorschläge vorzubringen. In Brökers Labor gibt es daher einmal pro Woche eine gemeinsame Laborrunde, in der verschiedene Themen angesprochen werden können.
DGUV-Experte Meß weist darauf hin, dass im persönlichen Austausch auch solche Barrieren und Risiken aus dem Weg geräumt werden können, die nicht auf rein sprachlichen Missverständnissen beruhen, sondern auf kulturell bedingten Gewohnheiten. „In anderen Kulturkreisen werden Risiken vielleicht anders bewertet. Auch das Zusammenarbeiten kann sich unterscheiden. Wir müssen also zuerst verstehen, auf welcher Ausgangslage von Sicherheit und Gesundheit überhaupt gearbeitet wird. Auch das ist Barrierefreiheit.“
Hinweise für barrierefreies Unterweisen
das Landesinstitut für Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung Nordrhein-Westfalen hat 10 Tipps für die Unterweisung von Migrantinnen und Migranten aufbereitet.
Praxisnah: Learning by Doing
Damit das gelingt, braucht es ein aktives Miteinander: „Ich kann meine Unterweisungen dann barrierefrei gestalten, wenn ich sie an meine Zielgruppe anpasse. Dafür muss ich mich mit ihr austauschen, gemeinsam benötigte Inhalte und Darstellungsformen erarbeiten. Warum nicht gleich vor Ort im Unternehmen oder an der Maschine“, so der Experte. Denn gerade bei Sprachbarrieren ist ein praktisches, anwendungsnahes Vorgehen sinnvoll – vom gemeinsamen Ablaufen der Fluchtwege bis zum Besuchen bestimmter Ansprechpersonen. Man könne auch Vermittlungspersonen an Unterweisungen teilnehmen lassen, schlägt Meß vor. Etwa Mitarbeitende, die beide Sprachen sprechen oder mit denen Unterwiesene bereits zusammengearbeitet haben.
Von rein schriftlichen oder nur online vermittelten Unterweisungen rät Meß ab. Dergleichen sei oft eher auf eine Auflagenerfüllung ausgelegt als auf tatsächliche Verständnisvermittlung. Für einige Inhalte reicht das Selbststudium auch schlichtweg nicht aus. Beim Umgang mit Gefahrstoffen etwa ist eine mündliche Unterweisung Pflicht.
Unterstützung auch für Führungskräfte
Meß betont, dass Barrierefreiheit eine anspruchsvolle Aufgabe und oftmals mit Hürden verbunden sei. Alles, was über ein standardisiertes Vorgehen hinausgehe, sei aufwendig, verlange mehr Kapazitäten – und könne schnell überfordern. Vorgesetzte müssen den Führungskräften daher Unterstützung und Zeit einräumen, um das Thema anzugehen, so der Experte. Es gibt Schulungen und Seminare zum Thema Migration und Arbeit, etwa vom Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG). Auch allgemeinere Seminare zu Fehlerkultur, Kommunikation und Arbeitsschutzfragen können mit ein wenig Eigentransfer auf die Bedürfnisse im Unternehmen und die der Mitarbeitenden übertragen werden.
Ob im Labor oder in der Stadtverwaltung: Die Basis für erfolgreiche, barrierefreie Zusammenarbeit ist ein wertschätzendes Miteinander und eine integrative Firmenkultur, die sich durch die gesamte Unternehmenskette zieht – von der obersten Führungsriege bis zu den Mitarbeitenden am Nebentisch.