Führungskultur : Psychisch erkrankten Menschen Chancen geben
In seinem Buch „Das Stigma psychischer Erkrankung“ benennt Prof. Nicolas Rüsch ein Dilemma: Selbst wenn Betroffene ihre Erkrankung gut bewältigen, hemmen gängige Vorurteile ihre gesellschaftliche Teilhabe. Der Experte der Universität Ulm und des Bezirkskrankenhauses Günzburg liefert Anregungen, wie Integration am Arbeitsplatz gelingen kann.
Herr Prof. Rüsch, woher kommt das Stigma psychischer Erkrankungen?
Oft erscheint es einfacher, nach dem ersten Eindruck schablonenhaft rasch zu entscheiden. Verhält sich jemand merkwürdig? „Der ist psychisch krank, vielleicht gefährlich, ich halte lieber Abstand“, ist die einfachste Reaktion. Auch wenn das oft nicht stimmt. Auf gesellschaftlicher Ebene bedient das Stigma – etwa „Psychisch Kranke sind selbst schuld an ihrer Lage“ – das Bedürfnis, in einer gerechten, berechenbaren Welt zu leben. Es entlastet die Gesellschaft davon, sich für Betroffene einzusetzen.
Wie schätzen Sie den Umgang mit psychisch erkrankten Beschäftigten im Berufsleben ein?
Wie in der Gesellschaft wächst auch im Berufsleben vermutlich das Bewusstsein für das Thema. Manche Arbeitgebende und Führungskräfte verhalten sich sehr verständnisvoll und hilfsbereit. Doch es gibt andere, die die „Irren“ oder „Kranken“ loswerden wollen. Dann hilft das beste Eingliederungsmanagement und die beste Rehabilitation nicht.
Wenn Integration am Arbeitsplatz nicht gelebt wird, kann sie nicht gelingen. Dabei ist eine offene Haltung gegenüber psychischen Problemen mehr als angemessen. Immerhin ist ein zweistelliger Prozentteil der Beschäftigten betroffen – und rein statistisch jede Familie. Dass damit nicht offen umgegangen wird, ist also reichlich absurd.
Was empfehlen Sie, um das Stigma im Arbeitsleben abzubauen?
Wirklich hilfreich sind Programme, in denen Führungskräfte und andere Beschäftigte in kooperativen Kontakt mit Menschen kommen, die ihre psychische Erkrankung überwunden haben. Ideal ist ein Workshop. Dieser positive Kontakt ist die wirksamste Form, Vorurteile im öffentlichen Raum und im Arbeitsumfeld abzubauen. Sie wird wesentlich von Betroffenen getragen und stärkt diese auch, weil ihre Krankheitserfahrung in diesem Rahmen eine wichtige Bereicherung für alle ist.
Viele Beschäftigte möchten aber vermutlich nicht mit Vorgesetzten über ihre psychische Erkrankung sprechen. Ist dann ein stabiles privates Umfeld umso wichtiger?
Ein stabiles privates Umfeld ist wichtig. Doch es ersetzt nicht die Entscheidung, ob man im beruflichen Umfeld über seine Erkrankung spricht. Und wenn ja, wie und mit wem.
Weil diese Entscheidungen aber komplex und nur individuell zu treffen sind, gibt es ein von Betroffenen geleitetes Gruppenprogramm, das Teilnehmende bei der Entscheidung über die mögliche Offenlegung unterstützt. Es heißt „In Würde zu sich stehen“ und wird derzeit in Deutschland in einer vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Studie untersucht.