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Gefährdungsbeurteilung mit digitaler Unterstützung
Damit digitale Projekte gelingen, sind Schulungen zentral. Neben technischen werden persönliche Unsicherheiten abgebaut. © Adobe Stock/Jacob Lund

Arbeitssicherheit : Gefährdungsbeurteilung mit digitaler Unterstützung

Digitale Tools können Führungskräfte bei der Gefährdungsbeurteilung entlasten. Bei der Stadt Münster hat eine cloudbasierte Software viele Prozesse optimiert.

Wenn Michaela Wesselmann über die Gefährdungsbeurteilung spricht, dann gibt es ein Vorher und ein Nachher. Das Vorher markiert eine imposante Excel-Tabelle, die die Gefährdungen des Amtes für Mobilität und Tiefbau der Stadt Münster auflistet. Bis zum Jahr 2022 betreute Wesselmann mit einem Kollegen die Tabelle als Managementsystembeauftragte. Und das sehr gewissenhaft: „Wir waren schon immer gut aufgestellt, was die Gefährdungsbeurteilung angeht“, sagt Wesselmann, heute Fachstellenleiterin der Fachstelle Organisation. „Aber die einzelnen Prozessschritte kenntlich zu machen, die Maßnahmen mit den Unterweisungspapieren zusammenzuführen und alles übersichtlich und aktuell zu halten – das war herausfordernd.“

Heute, im Nachher, sind sämtliche Daten und Dokumente an einem zentralen Ort abgelegt: in einer cloudbasierten Arbeitsschutz-Software namens „Quentic“. Die Eingabemaske erinnert an ein Content-Management-System. Alle Themen rund um die ­Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind in Module unterteilt – so auch die Ge­fährdungsbeurteilung mit einem Gefährdung­skatalog. Im Gespräch mit Wesselmann wird schnell deutlich: Mit der Einführung der Software wurden nicht nur zahlreiche Workflows verbessert – vielmehr hat sich der Stellenwert von Arbeitsschutz insgesamt gewandelt.

Gefährdungsbeurteilung: Pflichten und digitale Angebote

Die Gefährdungsbeurteilung ist ein zentrales Instrument für sichere und gesunde Arbeit – und laut Arbeitsschutzgesetz verpflichtend. Meist werden Führungskräfte mit der Durchführung beauftragt. In sieben Prozessschritten sollen sämtliche Gefährdungen für die Beschäftigten ermittelt und entsprechende Schutzmaßnahmen abgeleitet werden.

Fundament der Prävention: Mit sieben Schritten zur ­Gefährdungsbeurteilung

  • Vorbereiten: Arbeitsbereiche und Tätigkeiten festlegen; rechtliche Informationen beschaffen.
  • Gefährdungen ermitteln: Etwa durch Begehungen, Risiko­analysen, Umfragen; Basis sind die Gefährdungsfaktoren.
  • Gefährdungen beurteilen: Rechtslage, Schadensausmaß und -wahrscheinlichkeit prüfen.
  • Schutzmaßnahmen ­festlegen: Gefährdungen vermeiden oder minimieren, nach dem STOP-Prinzip (Substitution vor technischen vororganisatorischen vor personenbezogenen Schutzmaßnahmen).
  • Maßnahmen umsetzen: Dafür verantwortliche Personen bestimmen und Fristen setzen.
  • Wirksamkeit prüfen: Zum Beispiel durch Beob­achtung, Messung oder Befragung. Wichtig: Manche Maßnahmen wirken erst langfristig.
  • Ergebnisse dokumentieren: Ergebnisse, Maßnahmen und Prüfungen müssen schriftlich ­dokumentiert sein.

Weitere Infos zur Gefährdungsbeurteilung als zentrales Instrument des Arbeitsschutzes.

In welcher Form dieser Prozess umgesetzt wird, da lässt der Gesetzgeber einigen Spielraum. Klar ist aber: Je größer die Einrichtung und je vielfältiger die Tätigkeiten, desto länger die Liste der Gefährdungen und die Dokumentation derselben.

Genau hier setzen Software-Hersteller an. Für die Gefährdungsbeurteilung wird heute eine Vielzahl digitaler Tools angeboten, die komplexe Prozesse vereinfachen und optimieren sollen. ­Michaela Wesselmann war aber noch etwas wichtig: „Wir haben schon seit Jahren angemerkt, dass wir uns mit dem aktuellen Prozess nicht rechtssicher fühlen.“ Nicht nur fehlten klare Zuständigkeiten, die Dokumentation habe zudem die Wirksamkeitskontrolle der Maßnahmen erschwert. Nachdem auch andere Verantwortliche auf eine neue Lösung drängten, stellte sich Münsters Verwaltungsvorstand hinter die Idee, ein groß angelegtes Digitalprojekt zu starten.

Vom Pilotprojekt zur flächendeckenden Einführung der Software

In einem öffentlichen Verfahren wurde zunächst die Software ausgeschrieben. Mit der Entscheidung für die Anwendung fiel Ende des Jahres 2019 der Startschuss für ein zweijähriges Pilotprojekt. Der erfolgreiche Abschluss markierte den Beginn der dauerhaften Nutzung. Neben dem Amt für Mobilität und Tiefbau nutzten unter anderem das Jobcenter sowie das Amt für Kinder, Jugendliche und Familien mit allen städtischen Kindertagesstätten die Software schon.

Porträt von Maren Kaling, sie lächelt, trägt eine Brille und ein buntes Oberteil.
Maren Kaling koordiniert für die Stadt Münster die Einführung der Arbeitsschutz-Software. © Privat

 

Schritt für Schritt soll nun die gesamte Stadtverwaltung mit ihren rund 8.000 Mitarbeitenden die Gefährdungsbeurteilung sowie weitere Arbeitsschutzprozesse darüber abwickeln. Eine Schlüsselfigur in diesem Prozess ist Maren Kaling. Als HSE-IT-Koordinatorin der Stadtverwaltung ist sie für Einführung und Betreuung der Software verantwortlich. „Die Stelle wurde neu geschaffen“, sagt Kaling. „Es gehört zu den größten Problemen solcher Projekte, dass Software nebenbei eingeführt werden soll, etwa von den Fachkräften für Arbeitssicherheit. Die haben aber meist weder die Kapazitäten noch Erfahrungen im Projektmanagement.“ Kaling selbst hat Abschlüsse in Wirtschaftsinformatik und Projektmanagement. Sie betont: „Gutes Change Management ist einer der großen Erfolgsfaktoren dieses Projektes.“

Kaling führt auch die Schulungen der Führungskräfte durch. Geschult werden ausnahmslos alle – „von der Amtsleitung bis zur Teamleitung“. Denn im Zuge des Projektes wurde festgelegt, dass künftig alle Führungskräfte die Gefährdungsbeurteilung für ihren Bereich selbst durchführen. Hier stieß die Projektkoordinatorin indes auf ersten Widerstand. „Es gab schon einige, die dann sagten: ‚Was, das soll ich jetzt auch noch übernehmen?‘ Dann sagen wir: ,Das Gesetz ist 1996 in Kraft getreten und seitdem besteht die Verpflichtung dazu.‘“

Um Unsicherheiten und Vorurteile abzubauen, sei es wichtig, die Führungskräfte von Anfang an einzubinden und die Schulungen gut vorzubereiten. „Vorab prüft die Fachkraft für Arbeitssicherheit mit dem betroffenen Amt, welche Gefährdungen in der jeweiligen Abteilung berücksichtigt werden müssen. Dann erstellt sie mit der Software eine Muster-Gefährdungsbeurteilung, die die Führungskräfte in der Schulung bearbeiten.“ Zusätzlich wird Basiswissen zu den Rechten und Pflichten der Führungskräfte im Arbeitsschutz vermittelt.

Optimierung durch Muster-Dokumente und Erinnerungsfunktionen

Viele Führungskräfte seien nach der Schulung zwar etwas „erschlagen“ von der Komplexität, gingen aber mit einem positiven Feedback raus, sagt Maren Kaling. Auch Führungskraft Michaela Wesselmann ist von den Vorteilen überzeugt. „Wenn ich für eine Tätigkeit die Gefährdungen auflisten oder Schutzmaßnahmen ableiten will, kann ich auf die Mustervorschläge zurückgreifen und diese individuell anpassen oder ergänzen.“ Ebenso hilfreich findet sie die Erinnerungsfunktion. „Das System meldet sich, wenn ich etwa die Gefährdungsbeurteilung aktualisieren muss“, sagt Wesselmann. Die Maßnahmenkontrolle wird ebenfalls automatisch abgefragt.

Auch Bernd Bleckmann, zuständige Aufsichtsperson der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen, begrüßt das Software-Projekt ausdrücklich. „Durch den flächendeckenden Einsatz werden Prozesse zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit harmonisiert.“ Auch viele Kitaleitungen seien nach anfänglichen Unsicherheiten begeistert gewesen, die Gefährdungsbeurteilung nun strukturierter und effizienter bearbeiten zu können. „Die Software sorgt für das gute Gefühl, den Vorgaben entsprechend aufgestellt zu sein und nichts zu übersehen.“

Software für die Gefährdungsbeurteilung (GBU) nutzen: Chancen und Risiken

Chancen:

  • Software nimmt ­Führungs­kräften zeitraubende ­Aufgaben ab.
    So gelingt’s: Software vorab testen und vergleichen; Feature wie ­Muster-GBU nutzen; alle Features sollten individualisierbar sein
  • Führungskräfte werden stärker einge­bunden.
    So gelingt’s: Führungskräfte zu neuer Software ­schulen und für Arbeitsschutz ­sensibilisieren; Verantwortlichkeiten klar zuordnen
  • Mehr Struktur im GBU-Prozess.
    So gelingt’s: ­Support vom Hersteller in Anspruch ­nehmen; einheitliche Prozesse, transparente Ablage schaffen; Zusammen­arbeit zwischen IT-Fachkraft, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Projektleitung sowie Führungskräften

Risiken:

  • Beschäftigte ­reagieren ablehnend.
    So wird’s vermieden: ­Beschäftigte ­einweisen und jederzeit Fragen beant­worten; ­Vorteile der Software ­vermitteln; Rück­meldungen der ­Beschäftigten zur Prozess­optimierung ­berück­sichtigen
  • Das Projekt kommt ins Stocken.
    So wird’s vermieden: Ressourcen für Projekt­management und Change Management einplanen; Projektplan mit klaren Fristen ­erstellen
  • Führungskräfte fühlen sich überlastet.
    So wird’s vermieden: Führungskräfte umfassend schulen, ihnen keine fachfremden Aufgaben übertragen (z. B. die Projektleitung), Vorteile und Ziele der Software von Anfang an vermitteln

Umfrage zeigt: Digitale Tools werden zunehmend häufiger eingesetzt

Digitale Lösungen sind längst keine Ausnahme mehr. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage von top eins bestätigen 65 Prozent der Befragten, dass in ihrem Betrieb digitale Tools bei der Erstellung oder Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung zum Einsatz kommen. Am häufigsten werden sie für die Dokumentation der ­Gefährdungen genutzt (37 Prozent). Auch bei den Befragten fällt das Ergebnis überwiegend positiv aus: Fast die Hälfte (46 Prozent) findet, dass digitale Möglichkeiten das Erstellen oder Ergänzen der Gefährdungsbeurteilung „grundlegend“ erleichert. Nur drei der insgesamt 84 Umfrage-Teilnehmenden sehen gar keine Erleichterung.

 

Person in schwarzen Lackschuhen udn Anzughose stolpert über das Kabel einer Mehrfachsteckdose auf dem Boden.
Digitale Tools ersetzen nicht den Gang durch den Betrieb, um Risiken und Mängel zu erkennen. © Adobe Stock/cunaplus

 

In Münster nutzen auch alle Beschäftigten das Tool – in einer abgespeckten Form. Führungskraft Wesselmann kann über die Software auch Termine und To-Dos an ihr Team verschicken. Digitale Tools dürfen aber nicht dazu verleiten, nur noch digital zu kommunizieren. „Im Kern unterstützt die Software bei der Dokumentation und dem Nachhalten von Terminen. Wenn ich merke, es hakt, muss ich ins persönliche Gespräch gehen“, sagt Wesselmann. Auch der Austausch mit anderen Führungskräften sei elementar.

Wichtig ist: Auch moderne Arbeitsschutz-Software will gepflegt werden. Nachweise müssen hochgeladen und Berechtigungen für die verschiedenen Module festgelegt werden. Für das Daten-Management wurde im Amt für Mobilität und Tiefbau eigens eine Beschäftigte abgestellt. Zudem folgten weitere interne Schulungen. „Denn nur eine Ersteinführung reicht nicht aus“, sagt Wesselmann.

Investitionen können sich bei guten Digitalprojekten langfristig auszahlen

Neben den Anschaffungskosten summieren sich somit auch die Personalkosten – und die Kosten für Arbeitsschutzmaßnahmen: „Die Software erzwingt, dass wir am Ball bleiben und offensichtliche Mängel beseitigt werden“, sagt Aufsichtsperson Bernd Bleckmann. „Aber der Return of Invest wird positiv ausfallen, denn Unfälle mit Kosten und möglichen Rechtsfolgen werden weniger werden.“ Viele Arbeitsunfälle seien früher nur in der eigenen Abteilung überprüft worden. „Die Software transportiert das Thema in alle Abteilungen weiter und setzt eine kollektive Optimierung in Gang.“ Diese langfristigen Vorteile würden von vielen Kommunen bisher verkannt.

Das Digitalisierungsprojekt hat in Münster nicht nur die interne Kommunikation verbessert. „Wir haben ein Netzwerk für alle kommunalen Anwenderinnen und Anwender der Software ins Leben gerufen“, sagt Projektkoordinatorin Kaling. Mit dabei sind etwa die Verkehrsbetriebe Köln. „Die Probleme, die bei der Einführung und Anwendung solcher Software auftreten können, ähneln sich. Es hilft, sich darüber auszutauschen.“