Arbeitssicherheit : Psychische Belastung ermitteln – mit digitaler Hilfe
Wie fördert man die Gesundheit von Beschäftigten, die sich Tag für Tag um die Gesundheit anderer Menschen kümmern? Darauf findet Jessica Alica Odenthal immer wieder neue Antworten. Als Leiterin des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) des Klinikums Leverkusen weiß sie, dass die Arbeit des medizinischen, aber auch des Verwaltungspersonals oder der Reinigungskräfte herausfordernd sein kann. Um Gefährdungen frühzeitig zu erkennen, hat das Klinikum im Jahr 2023 an einer wichtigen Stellschraube gedreht: der Ermittlung der psychischen Belastung. Mithilfe eines Tools für digitale Fragebögen wurde der Prozess grundlegend neu strukturiert – eine „riesige Arbeitserleichterung“, so Odenthal.
Die psychische Belastung muss im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung erfasst werden. Ziel ist es, mögliche Gefährdungen zu ermitteln und, wenn nötig, Schutzmaßnahmen abzuleiten. Doch für Verantwortliche – und das sind oft auch die Führungskräfte – kann es herausfordernd sein, den dafür benötigten Input zu bekommen. „Die Gefährdungsfaktoren durch psychische Belastung müssen von den Beschäftigten zurückgemeldet werden“, so Odenthal. Denn diese sind von außen oft nicht ersichtlich und können zudem sehr sensibel sein. Etwa, ob Beschäftigte überfordert sind, sich durch Lärm gestört fühlen oder soziale Probleme im Team haben.
Digitale Fragebögen eignen sich als erster Schritt im Prozess
Anonyme Fragebögen sind ein möglicher erster Schritt. Doch auch die erfordern strukturiertes Vorgehen, um die Fragen auf die Tätigkeiten zuzuschneiden und gleichzeitig mit einheitlichen Bewertungsstandards zu arbeiten. „Bei uns hätte niemand die Kapazitäten gehabt, solche Fragebögen zu erarbeiten und den Teams vorzustellen“, so Odenthal. „Wichtig war uns zudem ein Tool, das Gewalt am Arbeitsplatz aufgreift, denn das ist insbesondere in den Notfallambulanzen ein Problem.“ Im Austausch mit der Unfallkasse Nordrhein- Westfalen (UK NRW) fiel die Wahl auf das Online-Instrument „PsyGesund“, das vom Universitätsklinikum Aachen mit der Kommunalen Unfallversicherung Bayern entwickelt wurde.
Aktuell wird das Tool für ein Projekt mit mehreren Unfallkassen angepasst. „Wir wollten eine Hilfestellung für die qualitativ gute Erfassung der psychischen Belastung geben, denn da gibt es noch viel Wildwuchs“, sagt Referentin Corinna Wiegratz von der Regionaldirektion Rheinland der UK NRW, die am Projekt beteiligt ist.
Methoden zur Ermittlung psychischer Belastung
- Beschäftigtenbefragung, z. B. durch digitale oder Papier-Fragebögen
Chancen: Fragebögen lassen sich gut vorbereiten und standardisieren, können allen Beschäftigten zugespielt werden, können anonym ausgefüllt werden, gute Vergleichbarkeit der Ergebnisse
Grenzen/Herausforderungen: Nur bei hinreichender Beteiligung sinnvolle Auswertung möglich; ggf. mangelnde Teilnahmemotivation; Ergebnisse liefern Hinweise auf Gefährdungen, aber noch keine Maßnahmen
- Beobachtung/Beurteilung der Tätigkeit durch geschulte Person, ggf. Kurzinterviews
Chancen: Objektive Perspektive außerhalb der Beschäftigtenperspektive, direkter Alltags-Eindruck der Tätigkeit, Möglichkeit zu direktem Gespräch mit Beschäftigten
Grenzen/Herausforderungen: Nicht jede potenzielle Gefährdung lässt sich in einem kurzen Zeitraum beobachten (z.B. Mobbing); hoher zeitlicher Aufwand; Fachwissen/Schulung vorab notwendig
- Analyse-Workshop mit Moderation, ggf. mit externer Fachperson
Chancen: Beschäftigte und Führungskräfte tauschen sich aus, neutrale Moderation steuert und gibt Struktur, neben Risiken können auch direkt mögliche Maßnahmen besprochen werden
Grenzen/Herausforderungen: Geschulte Moderationen müssen organisiert werden; mögliche Hemmungen einzelner Beschäftigter, in großer Runde/vor der Führungskraft über sensible Themen zu sprechen
Fazit: Eine Kombination aus Beschäftigtenbefragung und Beobachtungsinterview oder Analyseworkshop ist oftmals ideal, denn Ergebnisse anonymer Befragungen und persönlicher Gespräche können variieren bzw. einander ergänzen; Beschäftigte sollten gefragt werden, ob sie an Workshops teilnehmen wollen.
Noch ist das Tool in der Testphase, aber BGM-Leiterin Odenthal ist bereits jetzt von den Vorzügen überzeugt. Nutzende können über einen Link die Fragebögen abrufen und je nach Zielgruppe zusammenstellen. „Für medizinisches Personal kann ich beispielsweise den Standardfragebogen mit einem Fragenkatalog zum Schichtdienst ergänzen. Für Beschäftigte der Verwaltung würden andere Zusatzmodule ergänzt“, so Odenthal. Mit wenigen Schritten hätten sie und ihr Team so eine Vollbefragung für das ärztliche Personal sowie weitere Berufsgruppen der Notfallambulanzen erstellt – mit diesen wurde die konzernweite Befragung gestartet. „Das Ausfüllen dauert fünf bis sieben Minuten und die Bedienung ist intuitiv. Entsprechend hoch war die Beteiligung mit 67 Prozent.“
Gefährdungsbeurteilung mit digitaler Unterstützung
Digitale Tools können Führungskräfte bei der ...
Ermittlung psychischer Belastung als Chance für die Arbeitsorganisation
Warum es so wichtig ist, Gefährdungen durch psychische Belastung zu ermitteln, erläutert Dr. Marlen Cosmar, Leiterin des Referats Arbeitswelten, Mobilität und Gesundheit beim Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG). „Psychische Faktoren wirken sich auf unser Denken und Fühlen aus“, so die Psychologin. „Durch dauerhaft ungünstige Arbeitsbedingungen leidet die Konzentration, Stress kann sich einstellen, und das Risiko für Arbeitsunfälle oder Erkrankungen erhöht sich.“ Gleichzeitig sei der Prozess eine gute Gelegenheit, generelle Abläufe zu überprüfen und beispielsweise die Arbeitsorganisation zu optimieren. „Das birgt großes Potenzial und kann positive Effekte auf die Produktivität haben.“
Dieses Potenzial wird laut einer Umfrage der top eins oft verschenkt. Auf die Frage, ob die psychische Belastung in ihrem Unternehmen erfasst wird, antworteten 61 Prozent der Befragten mit „Ja“. Bei 31 Prozent wird sie nicht erfasst, acht Prozent wissen es nicht. Als Hauptgründe für die Nichterfassung werden „Fehlendes Wissen, wie es gemacht wird“ und „Es gibt niemanden, der sich darum kümmert“ genannt – beides trifft bei 48 Prozent der entsprechenden Teilnehmenden zu. An der nicht repräsentativen Umfrage beteiligten sich insgesamt 139 Personen.
Psychische Belastung ganzheitlich verstehen
Psychologin Cosmar kennt weitere Gründe, warum psychische Belastung in vielen Unternehmen nur unzureichend berücksichtigt wird: „Eine generelle Scheu vor dem Begriff ‚Psyche‘ ist ein wichtiger Faktor.“ Oft werde psychische Belastung mit psychischen Erkrankungen gleichgesetzt – ein Thema, das bei vielen Führungskräften große Berührungsängste auslöse. „Vielleicht wäre ‚mentale Anforderungen‘ der zugänglichere Begriff“, so Cosmar. Zudem müssen Führungskräfte offen dafür sein, auch das eigene Verhalten zu überdenken – etwa wenn die Befragungen eine problematische Führungskultur offenlegen. „Die Ergebnisse nehmen manche Führungskräfte viel zu persönlich. Es gehört aber zur Führungsverantwortung, gesunde Arbeitsbedingungen zu gestalten.“
Digitale Tools findet auch Cosmar hilfreich, um die ersten Prozessschritte einfacher und einheitlicher zu gestalten. Wichtig sei aber: „Solche Tools liefern nur einen ersten Überblick. Mit den Ergebnissen sollte ich in den Dialog gehen. Entweder in einem großen Workshop oder mit einzelnen Beschäftigten, wenn die Anonymität vor dem restlichen Team gewahrt bleiben soll“, sagt Cosmar. „Dann kann ich ins Detail gehen: Wann und wie werden Beschäftigte beispielsweise bei der Arbeit unterbrochen und welche Maßnahmen können helfen?“Am Ende sollte die psychische Belastung nicht isoliert betrachtet werden, sondern mit allen anderen Faktoren der Gefährdungsbeurteilung zusammenfließen. Verantwortlich für die Gefährdungsbeurteilung sind die Unternehmensleitung beziehungsweise deren Führungskräfte, die bei diesem Prozess oft von der Fachkraft für Arbeitssicherheit beraten werden. Auch die aktive Beteiligung des BGM ist denkbar – wie im Klinikum Leverkusen. Entscheidend ist, dass ein regelmäßiger Austausch stattfindet.
Gut zu wissen
Kategorien für psychische Belastung am Arbeitsplatz mit Beispielen
- Arbeitsinhalte: Wie kompliziert sind Arbeitsaufgaben, sind Beschäftigte über- oder unterfordert, sind sie mit Gewalt konfrontiert?
- Arbeitsorganisation: Welchen Handlungsspielraum haben Beschäftigte, wie ist die Pausenregelung?
- Arbeitszeit: Wie viel Zeit haben sie für Aufgaben, wann beginnt der Arbeitstag?
- Arbeitsmittel: Funktionieren Maschinen oder Computer einwandfrei, passen die Systeme/ Arbeitsmittel zu den jeweiligen Kenntnissen und Aufgaben?
- Arbeitsumgebung: Wie sind die Arbeitsplätze gestaltet, wie steht es um die Ergonomie, ist es laut, zu warm, zu dunkel oder zu hell?
- Soziale Beziehungen: Gibt es Fälle von Mobbing im Team, wie läuft die Kommunikation, wie ist das Betriebsklima, wie die Feedback-Kultur?
Hinweis: Welche Gefährdungsfaktoren innerhalb dieser Kategorien relevant sind, muss jeder Betrieb individuell ermitteln.
Gefährdungen einordnen und individuelle Maßnahmen ableiten
Das bestätigt Jessica Alica Odenthal. „Die Fragebögen ermitteln nur, welche Gefährdungen es gibt, und nicht, wie individuell belastet die Beschäftigten sind.“ Bei der Auswertung hilft den Verantwortlichen ein Ampelsystem des Tools. Die Ampel springt auf Gelb, wenn mindestens 50 Prozent der Befragten bei einer möglichen Gefährdung „Ja“ klicken. Bejahen die meisten oder alle ein Risiko, zeigt das Tool Rot – dann besteht dringender Handlungsbedarf. „In beiden Fällen gehen wir ins Gespräch mit dem Fachbereich und fragen auch die Mitarbeitenden, wie sie ihre Belastung beurteilen und wo wir Maßnahmen ergreifen sollten.“ Wichtig sei, die jeweiligen Voraussetzungen einzuordnen. „Unsere Befragung in den Notfallambulanzen hat klar ergeben, dass viele Beschäftigte häufig Gewalt und Aggressionen erleben und hier eine erhöhte Belastung vorliegt“, so Odenthal.
Ganz vermeiden lassen sich diese Risiken nicht. Das Klinikum reagierte aber mit einem Präventionsprogramm und gezielten Schulungen. Wichtig ist: Die Gefährdungsbeurteilung mitsamt dem Faktor psychische Belastung ist ein fortlaufender Prozess. Bestenfalls schärfen digitale Fragebögen auch im Alltag den Blick für mögliche Risiken – und nehmen die Scheu, einfach mal nachzufragen.