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Job Carving: Kein Job von der Stange
Für Betül Bademci (links) und Finn Meyer (rechts) wurden Lotsenstellen geschaffen, bei denen ihre Behinderungen berücksichtigt wurden. © UKE Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf

Führungskultur : Job Carving: Kein Job von der Stange

Eine Arbeitsstelle nach den Fähigkeiten einer Person einrichten: Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zeigt, wie Job Carving Teilhabe fördert.

Unter den mehr als 80 Gebäuden des Campus des ­Uniklinikums Hamburg Eppendorf (UKE) die gesuchte Station zu finden, ist gar nicht so leicht. Im Eingangsbereich steht ­deshalb Betül Bademci bereit, die Aufschrift ihrer Weste: „UKE Lotse“. Freundlich und hilfsbereit fragt sie Besucherinnen, Patienten und Gäste, wie sie helfen kann. Denn auf dem Gelände kennen sie und Lotsen-Kollege Finn ­Meyer sich hervorragend aus. Bei Bedarf begleiten sie ­Suchende bis zum Zielort. Was ihre Arbeit so besonders macht: Die Lotsenstellen wurden für beide ­eigens ­geschaffen. Vorher arbei­teten sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) – wollten aber auf dem ersten Arbeits­markt tätig werden.

Einen Job schnitzen

Also wandte sich die Werkstatt an die Einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgebende (EAA BIHA) des ­Inte­grationsamtes Hamburg, die wiederum bereits mit ­Ottmar Heesen vom UKE zu Inklusionsthemen in Kontakt stand. Als ­Inklusionsbeauftragter und Projektmanager Inklusion vor Ort hörte sich Heesen intern um, wo eine Tätigkeit möglich wäre. „Ich dachte an eine unterstützende Funktion, die medizinisches Personal genau wie Patienten und Patientinnen entlastet. Zuerst habe ich den Personalvorstand angesprochen, der fand die Idee toll und hat das Projekt abgesegnet. Mit Führungs­kräften verschiedener Abteilungen wurde dann intern ausgelotet, wo eine Umsetzung passen könnte.“ Nach sechsmonatiger Probezeit stellte das UKE Bademci und Meyer fest an. Dieses Vorgehen, einen Arbeitsplatz nach den Fähigkeiten von potenziellen Mitarbeitenden zu formen, nennt sich Job Carving.

Das Eingangsgebäude des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Davor befinden sich eine Rasenfläche, Fahrradständer und Bänke, auf dene Menschen sitzen.
Auf dem weitläufigen UKE-Gelände helfen die Guides Patientinnen und Patienten, Besucherinnen und Besuchern, sich zurechtzufinden. © UKE Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf

Aufgaben bündeln

Dabei werden Arbeitsprozesse analysiert und neu strukturiert – durch Aufteilen größerer Aufgaben oder Bündelung einzelner Tätigkeiten. „Arbeitsschritte werden voneinander getrennt und neu zusammengesetzt. Wie ein Legosystem“, erläutert Dr. Bert Wagener, der an der Hochschule der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (HGU) zu inklusiver Arbeitsgestaltung forscht. „Unternehmen müssen dafür einzelne Arbeitsprozesse genau kennen und bereit sein, sie neu zu gestalten.“ Und über die Fähigkeiten der Personen ­Bescheid wissen, für die Stellen geschaffen werden. ­Bei kognitiven Einschränkungen oder geistiger Behinderung bieten sich einfach durchführbare, verständ­liche Routineaufgaben an. Weil diese oft sehr spezifisch und differenziert sind, gibt es kaum eigene Stellenausschreibungen für sie – doch sie sind Bestandteil vieler Stellen. Das kann das ­Verteilen der Post sein, Daten­archivie­rung oder Begleitgänge wie am UKE.

Aspekte von Job ­Carving

Tätigkeiten bestimmen …

… gemeinsam mit externen Beratungs­stellen (Jobcoach, Arbeitsassistenz, Integrationsfachdienst und Inklusions­ämtern)

… die die Fähigkeiten potenzieller Mitar­beitender berücksichtigen. Sind diese mit spezifischen Unternehmensanforderungen vereinbar?

Im Unternehmen einbeziehen:

  • Geschäftsführung/Vorstand: entscheidet und bestimmt Zuständigkeiten
  • Personalabteilungen für Organisation: Müssen evtentuell Arbeitsverträge angepasst/Ämter informiert werden?
  • Führungskräfte für Einarbeitung: ggf. Mitarbeitende vorbereiten, Austausch mit internen Inklusionsabteilungen

Vorteile fürs Unternehmen:

  • Mehr Handlungsspielraum im Personalmanagement; neue Perspektiven
  • Fachkräftemangel entgegenwirken; weiteres Personal entlasten
  • Wegfall der Ausgleichsabgabe bei finanzieller Förderung
  • Beim Recruiting als vorbildliche Arbeitgebende profitieren

Vorteile für neue Mitarbeitende:

  • Teilhabe am Arbeitsleben; fairer Lohn
  • Selbstbestimmung und Selbstwirk­samkeit, weil der Job zu persönlichen Fähigkeiten und Interessen passt

Bademci und Meyer bringen neben kognitiven weitere Besonderheiten mit. Diese wurden bei der Stellenschaffung mithilfe des Jobcoaches aus der Werkstatt ebenfalls berücksichtigt.  Als Jobcoach kennt er beide seit Jahren und ist Bindeglied zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden. Er begleitete die Einarbeitung und achtete darauf, dass die Tätigkeiten weder über- noch unterfordern. Das hat gut geklappt. „Unsere Guides nehmen ihren Job sehr ernst und freuen sich über den unterstützenden Mehrwert“, so Heesen. In ihren je sechsstündigen Schichten tätigen sie bis zu 20 Wege. Zeigen, wo es zum campuseigenen Supermarkt geht, oder begleiten zum Taxi. „So nehmen sie anderen Klinikmitarbeitenden zeitraubende To-dos ab, und diese können sich auf die Stationsarbeit konzentrieren.“

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Win-win-Situation durch Job Carving

Vom Job Carving profitieren also alle Beteiligten: Menschen mit Behinderung kommen in eine Erwerbstätigkeit oder werden gehalten, ihre ­Stärken werden spezifisch genutzt und gefördert. „Der Gesellschaft dient es durch mehr Beschäftigung, ­Unternehmen durch die Entlastung des Personals und das Nutzen verschiedener Arbeitspotenziale – auch von gut ausgebildeten Kräften“, so DGUV-Experte ­Wagener. Mehr als 90 Prozent aller Behinderungen entstehen erst im Laufe des Lebens, meist durch Krankheit. Mit Job Carving kann ein Arbeitsplatz ­erhalten bleiben und dient so auch beim ­Betrieblichen Eingliederungs­management (BEM) und der Rehabilitation, getreu dem Präventionsgedanken der gesetzlichen Unfallversicherung. Job Carving kann so zum Erhalt der Arbeit auch körperliche Einschränkungen ausgleichen oder den ersten Eintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen.

Mehrere der auszubildenden UKE-Guides stehen vor dem Eingang neben dem Aufsteller, auf dem „Können wir Ihnen helfen? Wir begleiten Sie gern auf ihrem Weg im UKE“ steht.
Die nächste Riege UKE-Guides macht bereits ihr Praktikum und wird von Bademci und Meyer eingearbeitet. Die ­Koordinatorinnen Silke Martens (zweite von links) und Katrin Kell (dritte von rechts) unterstützen. © UKE Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf

Gut beraten – gut organisiert

In jedem Fall braucht es Verantwortliche und klare Strukturen. Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle. „Sie müssen die Betriebsleitung für die Umsetzung ­gewinnen, diese organisieren und die Mitarbeitenden, die von den ­Anpassungen betroffen sein werden, gegebenenfalls sensibilisieren und schulen“, so Wagener. Am UKE stellte Heesen dem Vorstand einen Konzeptplan inklusive ­Akquise-, Erprobungs- und Implementierungsphase vor. Essenziell sei eine korrekte und frühzeitige ­Planung. Er rät, zunächst die EAAs anzusprechen. Die bundesweiten Anlaufstellen beraten Unternehmen und Einrichtungen aller Art kostenlos – zu Antragsstel­lung, Finanzierung und Förderung, zum Vorgehen und ­Ablauf, sogar zur Kommunikation mit Förderstellen oder der Agentur für Arbeit. Sie vernetzen mit Werkstätten, Inklusionsämtern und Fachdiensten, die beim Job Carving konkret unterstützen, und bieten Seminare an. Mithilfe der EAA konnten die Stellen von Bademci und Meyer von der Agentur für Arbeit über das ­Budget für Arbeit finanziert werden. Mehr als 70 Prozent der Bruttopersonalkosten wurden so refinanziert.

Neben der Hamburger EAA BIHA steht Heesen auch mit der Zentrale Personal- und Poolmanagement (ZPP) in stetem Austausch. Die Abteilung kümmert sich am UKE um kurzfristige Personalausfälle, ehrenamtliche Mitarbeitende und auch die Guides sind dort ange­siedelt. Die ZPP-Koordinatorinnen sind jederzeit ­ansprechbar, sollten Bademci und Meyer mal ­Hilfe ­benötigen oder Fragen haben.

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Job Carving geplant?

Vorher fragen:

  • Welche Tätigkeiten kann die Person umsetzen? Können die Tätigkeiten gebündelt werden?
  • Wo im Unternehmen besteht Bedarf? Was genau sind die Aufgaben?
  • Welche Mitarbeitenden bieten sich für Zusammenarbeit/Einarbeitung an?
  • Was sind die konkreten Schritte? Können sie vereinfacht werden?

Muss geklärt sein:

  • Welche Abteilungen sind involviert? Wissen sie bzw. Führungskräfte Bescheid?
  • Sind Schwerbehindertenvertretung, Inklusionsbeauftragte, Betriebsrat etc. informiert? Und das Team?
  • Wer ist die (interne) zentrale Ansprechperson?
  • Wie läuft die interne Kommu­nikation ab (Einzelgespräche, Team­meetings, Workshops, Evaluationsmöglichkeiten)? Wer führt sie durch?
  • Gibt es einen (externen) begleitenden Jobcoach?
  • Was ist der Zeitrahmen (Starttermin, Probephase, Reflexion, Nachsteuerung)?
  • Müssen Sicherheitsbe­stimmungen angepasst werden?

Inklusive Grundhaltung

Offene Kommunikation ist essenziell. Für Feedback, aber auch, um allen Beschäftigten die ­inklusive Unternehmenshaltung zu ver­mitteln. „Unterstützung und Engagement ‚von oben‘ kann eventuelle Vorbehalte in der Belegschaft auf­fangen und die Relevanz und Bedeutung von ­Inklusionsmaßnahmen verdeutlichen“, bestätigt der DGUV-Experte. Die Bedeutung der UKE-Guides ist unübersehbar. Diverse Fachkliniken kündigten ­bereits Bedarf an eigenen Guides an. Bademci und Meyer ­arbeiten schon Praktikantinnen und Praktikanten ein. „Und wer könnte das besser als sie?“, freut sich Heesen.