
Führungskultur : Gemeinsam für mehr Teilhabe
Braille-Schrift an Geländern und Türschildern, Leitsysteme am Boden und angepasste Computersoftware für Menschen mit Sehbeeinträchtigung, Rampen und Aufzüge für Rollstühle, ein Assistenzhund, ergonomische Ausstattung und individuelle Vereinbarungen zu Arbeitsmodellen: All diese Maßnahmen machen es im Jobcenter Berlin Lichtenberg möglich, dass unter 552 Mitarbeitenden auch 58 schwerbehinderte Personen arbeiten – vom einfachen Dienst bis in die Führungsebene. „Inklusion bedeutet für mich, gemeinsam verschieden zu sein“, sagt Geschäftsführer Lutz Neumann. Er engagiert sich für inklusive Arbeitsbedingungen in seiner Einrichtung. 2022 ist das Jobcenter mit dem Inklusionspreis des Landes Berlin ausgezeichnet worden.
Inklusiv aufgestellte Unternehmen leisten einen wichtigen sozialen Beitrag. Aber auch mit Blick auf den steigenden Fachkräftemangel lohnt sich Inklusion: Von bundesweit 116.000 arbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung im Jahr 2023 hatten laut Bundesagentur für Arbeit mehr als die Hälfte einen Berufs- oder Hochschulabschluss und suchten eine Beschäftigung als qualifizierte Fachkraft.
Bewusstsein stärken
Um das Potenzial der Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt zu übertragen, wünscht sich Jürgen Meß, Leiter des Sachgebiets Barrierefreie Arbeitsgestaltung der DGUV, ein noch stärkeres Bewusstsein für ihre Belange, aber auch ihre Stärken. „Genau wie bei jeder Personalentscheidung geht es doch darum, dass jemand die richtigen Qualifikationen mitbringt. Im Austausch mit den Menschen selbst und den unterstützenden Fachstellen wird dann gemeinsam dafür gesorgt, dass die Tätigkeit auch ausgeübt werden kann.“ Das gehe zwar eventuell mit einem gewissen Aufwand und Veränderungen im Unternehmensalltag einher, trotzdem ermutigt der Experte nachdrücklich zu mehr Engagement. „Wenn eine Zusammenarbeit nicht funktioniert, wird ein Beschäftigungsverhältnis auch nicht erzwungen. Aber oft ist die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gar nicht so kompliziert. Und allein gelassen wird auch niemand.“
Beratung und Unterstützung
Spätestens mit dem Teilhabestärkungsgesetz 2022 sind Arbeitgebenden umfangreichere und zugängliche Unterstützungsmöglichkeiten geboten. „Mit der Hilfe von Rehabilitationsträgern wie den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, der Rentenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit ist Verlass auf ein sehr gut ausgebautes Unterstützungs-, Beratungs- und Finanzierungssystem“, bestätigt Christoph Beyer, Leiter des Inklusionsamtes des Landschaftsverbands Rheinland. Hinzu kommen die Inklusions- und Integrationsämter und ihre Angebote wie der Inklusionsfachdienst (IFD), der Technische Beratungsdienst oder die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgebende (EAA), die alle konkret auf Inklusionsunterstützung ausgelegt sind. Die Angebote anzunehmen lohnt sich. Denn dieses Jahr wurde die Ausgleichsabgabe auf 140 bis 720 Euro monatlich erhöht, wenn Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden nicht mindestens 5 Prozent schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Das Geld geht an die Inklusionsämter.

„Wenn man noch gar nicht weiß, wo man anfangen soll, wenn man eine Person mit besonderen Bedarfen einstellen will, einfach an die Einheitlichen Ansprechstellen wenden!“, so Beyer. Die Ansprechstellen wurden mit dem Teilhabestärkungsgesetz auf Landesebene installiert. „Die Ansprechpersonen dort kennen die lokalen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes und fungieren als persönliche Lotsen für alle möglichen Inklusionsthemen. Bei Bedarf bleiben sie während des ganzen Einstellungsprozesses hindurch begleitend an der Seite des Unternehmens.“ Beyer berichtet von guten Erfahrungen mit den Ansprechstellen. Viele Unternehmen erhalten auch nach der Einstellung den Kontakt zur EAA aufrecht.
Gut zu wissen: Unterstützung im Inklusionsprozess
Rehabilitationsträger wie die Unfallkassen und Berufsgenossenschaften
Inklusions- bzw. Integrationsamt:
→ bietet Unterstützung für Arbeitgebende (z.B. zu Finanzierungsmöglichkeiten) und schwerbehinderte Menschen (z.B. bei der Jobsuche oder der Finanzierung technischer Arbeitshilfen)
→ arbeitet mit verschiedenen Partnerinnen und Partnern zusammen
→ Träger ist das jeweilige Bundesland
Einheitliche Anlaufstelle für Arbeitgebende (EAA):
→ Anlaufstellen mit Lotsenfunktion für Arbeitgebende bei der Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung
→ persönliche Informations, Beratungs, Vermittlungsmöglichkeit
→ bundesweit flächendeckend von den Inklusionsund Integrationsämtern eingerichtet
Inklusionsfachdienst (IFD):
→ vermittelt zwischen Arbeitgebenden und Menschen mit Behinderung
→ erschließt nach Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Interessen geeignete Ausbildungs und Arbeitsplätze
→ klärt den Betrieb über Art und Auswirkung der Behinderung auf
→ handelt im Auftrag der Inklusions und Integrationsämter, Agenturen für Arbeit oder Rehabilitationsträger
Technischer Beratungsdienst (TBD):
→ berät in technischen Fragen der Arbeitsplatzgestaltung und unterstützt bei der Beschaffung und Handhabung von technischen Hilfsmitteln
→ berücksichtigt neben technischen Anforderungen auch die Sicherung der Beschäftigungsverhältnisse und der Arbeitssicherheit
→ handelt im Auftrag der Inklusions und Integrationsämter, Agenturen für Arbeit oder Rehabilitationsträger
Klicktipp: Verzeichnisse der Inklusionsämter und Ansprechstellen sowie weitere Informationen bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen.
Gesprächsangebote machen
Da nur drei Prozent aller Behinderungen angeboren sind und die meisten erst im Laufe des Lebens auftreten, müssen Arbeitgebende und Führungskräfte eventuell auch akut auf eine Behinderung reagieren. Ziel von Inklusion im Arbeitskontext ist immer, ein Beschäftigungsverhältnis zu erhalten. Dafür ist es essenziell, mit den Menschen persönlich zu sprechen. In Einrichtungen ab fünf Beschäftigten mit Schwerbehinderung ist deshalb die Aufstellung einer Schwerbehindertenvertretung gesetzlich verpflichtend. Aber auch in kleineren Unternehmen sind klare Ansprechpersonen ratsam.
Im Jobcenter Berlin Lichtenberg hat Marcel Wallisch das Ehrenamt der Schwerbehindertenvertretung inne. Mitarbeitende und Führungskräfte sprechen ihn an, wenn sie Fragen oder Bedarfe haben, aber er sucht auch eigenständig das Gespräch. Einmal im Monat berät er sich mit dem Geschäftsführer und er steht in stetem Austausch mit Anja Ullrich, der Inklusionsbeauftragten auf Führungsebene. „Inklusion gelingt nur mit offener, vertrauensvoller Kommunikation und ehrlichem Zuhören über alle Hierarchieebenen hinweg“, bestätigt Ullrich ihren Kollegen. Geschäftsführer Lutz Neumann nutzt etwa interne Kommunikationskanäle wie eine Mitarbeitendenzeitung oder offene Gesprächsangebote, um Transparenz zu Maßnahmen, Entscheidungen oder Entwicklungen zu schaffen und die Relevanz von Inklusion im Hause an alle zu vermitteln. Er macht auch beim jährlichen Aktionstag „Schichtwechsel“ mit, an dem Menschen mit und ohne Behinderungen ihren Arbeitsplatz tauschen, und nutzt Veranstaltungen, um alle Mitarbeitenden persönlich kennenzulernen.
Checkliste: Mit wem sich Führungskräfte austauschen können
Inklusionsbeauftragte:
- bei allen Fragen zu Inklusion im Unternehmen
- um die Verpflichtung zum Schutz und zur Förderung schwerbehinderter Mitarbeitenden einzuhalten
- um Belange der Schwerbehindertenvertretung zu erfahren
- Inklusionsbeauftragte arbeiten mit der Agentur für Arbeit und Inklusions- und Integrationsämtern zusammen und müssen diesen vom Arbeitgebenden genannt werden
Interessenvertretungen wie die Schwerbehindertenvertretung (SBV):
- um von ihnen als Ansprechstelle und Vertrauensperson für Mitarbeitende über deren Belange informiert zu werden
- bei Entscheidungen, die behinderte Beschäftigte tangieren. Diese rechtzeitig und umfassend kommunizieren
- Die Schwerbehindertenvertretung ist die alle vier Jahre gewählte ehrenamtliche Interessenvertretung der schwerbehinderten Beschäftigten bei einer Unternehmensgröße ab fünf Mitarbeitenden mit Schwerbehinderung
Flexibel, aber vorbereitet
Schon im Einstellungsprozess wird im Gespräch geklärt, was neue Mitarbeitende mit Behinderung benötigen, damit der Arbeitsplatz frühzeitig angepasst werden kann – von speziellen Tischen bis zur Rollstuhlrampe oder individuellen Arbeitszeiten. „Aber auch wenn eine Beeinträchtigung erst während der Beschäftigung auftritt, reagieren wir und passen die Gegebenheiten an. Wir achten auch darauf, dass das ganze Team die Maßnahmen versteht und akzeptiert. Dieser empathische, menschliche Blick ist uns sehr wichtig“, so Schwerbehindertenvertreter Wallisch. Besonders bei unsichtbaren Behinderungen verlangt das auch mal Fingerspitzengefühl. „Wenn beispielsweise jemand aufgrund von Angststörungen nicht jeden Tag voll leistungsfähig ist oder vermehrt aus dem Homeoffice arbeitet, soll das Team das nicht als Sonderbehandlung, sondern als Maßnahme für gleiche Teilhabemöglichkeit verstehen.“
Um hier für noch mehr Vertrauen zu sorgen, gibt es Gesprächsrunden und Schulungen. Intern führt sie Wallisch selbst durch, aber auch von der Bundesagentur für Arbeit werden Trainings angeboten. Hier finden Arbeitgebende zudem ein breites Portfolio bedarfsgenauer Sachleistungen und bekommen Hilfe vom Technischen Beratungsdienst zur Installation und Nutzung.

Klicktipp
Handlungshilfen für kleine und mittlere Unternehmen für Inklusion im Betrieb in der DGUV Information.
Sicher, gesund und inklusiv arbeiten
Werden solche Sachleistungen in Form neuer Arbeitsmittel angeschafft oder Arbeitsplätze umgebaut, müssen eventuell auch (Sicherheits-)Unterweisungen angepasst und aufgefrischt werden. DGUV-Experte Meß verweist auf das große Informationsangebot der gesetzlichen Unfallversicherung zur barrierefreien Arbeitsgestaltung. „Neben Infomaterial werden auch Schulungen angeboten. Wir arbeiten mit Inklusionsämtern zusammen, daraus ergibt sich ein breites Informationsspektrum rund um die Arbeitsplatzgestaltung und Sicherheits- und Gesundheitsfragen von schwerbehinderten Beschäftigten.“ Zudem betont er die wertvolle konkrete Beratungsfunktion der Unfallkassen. Im Jobcenter Berlin Lichtenberg nutzen Geschäftsführung, Schwerbehindertenvertretung, Personalrat und die Fachkraft für Arbeitssicherheit die Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses (ASA), um Sicherheitsanforderungen zur Teilhabeförderung zu besprechen. Sie evaluieren gemeinsam, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss, damit alle Beschäftigten gleichwertig und sicher arbeiten können.
Teilhabe: Auf die Stärken achten
Beyer streicht den Aspekt der Gleichwertigkeit noch mal gesondert heraus. Manchmal hätten Arbeitgebende Bedenken, dass behinderte Beschäftigte nicht hundert Prozent geben könnten. „Der Fokus sollte aber viel mehr darauf liegen, welche Stärken die Menschen mitbringen. Mit welchen besonderen Fähigkeiten oder Perspektiven sie das Unternehmen bereichern.“ DGUV-Experte Meß stimmt zu und ergänzt: „Mithilfe passender Unterstützung und eines angepassten Arbeitsplatzes kann ein Mensch mit Behinderung die gleiche Leistung bringen wie jemand ohne Einschränkungen auch. Das bedeutet Teilhabe.“