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Betriebliches Eingliederungsmanagement: Arbeitskräfte erhalten
BEM-Maßnahmen zielen bei Beschäftigten der Abfallsammlung oft auch körperliche Entlastung ab. © BSR

Arbeitssicherheit : Betriebliches Eingliederungsmanagement: Arbeitskräfte erhalten

Bei der Berliner Stadtreinigung zeigt sich, dass ein gelungener BEM-Prozess nicht nur Beschäftigte unterstützt, sondern die ganze Unternehmenskultur voranbringt – mithilfe.

Manchmal erschließt sich ein Problem erst auf den zweiten Blick. So war es auch bei einem Fall, der Philipp Schröder vom Betrieblichen Eingliederungsmanagement der Berliner Stadtreinigung (BSR) besonders in Erinnerung geblieben ist. Ein Beschäftigter aus der Straßenreinigung war zum BEM-Erstgespräch erschienen. Zuvor war er wochenlang krankgeschrieben gewesen – aufgrund eines Freizeitunfalls. „Im Gespräch stellte sich heraus, dass es eine Vielzahl belastender Themen für den Kollegen gab“, erinnert sich Fallmanager Schröder. Neben gesundheitlichen Sorgen gab es auch finanzielle. Zusätzlich hatte der Kollege immer wieder Schwierigkeiten, eine Kinderbetreuung im Einklang mit seinem Arbeitsbeginn zu finden.

Ein komplexer Fall, der langfristig die Arbeitsfähigkeit des Mannes bedrohte. Vergleichsweise simpel, aber umso effektiver war unter anderem eine Lösung, die im Rahmen des BEM-Prozesses gefunden wurde und das Betreuungsproblem löste: „Wir haben gemeinsam mit der Führungskraft organisiert, dass der Beschäftigte nicht um 5:30 Uhr mit der Arbeit beginnen musste, sondern auf einer späteren Reinigungstour mitfahren konnte. Wir nennen das ‚Familientour‘“, sagt Philipp Schröder.

BSR organisiert das BEM über ein eigenes Fachteam

Erfolgsgeschichten wie diese werden bei der BSR mit ihren rund 6.200 Beschäftigten nicht dem Zufall überlassen. Allein die Tatsache, dass das Unternehmen ein sechsköpfiges BEM-Fachteam etabliert hat, ist alles andere als selbstverständlich. Denn die Einführung und Umsetzung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements ist zwar seit 2004 eine gesetzliche Verpflichtung der Arbeitgebenden, die laut Sozialgesetzbuch IX besagt: Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig, muss ihnen ein BEM angeboten werden – mit dem Ziel, die Arbeits­unfähigkeit zu überwinden und den Arbeitsplatz zu er­halten. Doch trotz dieser Verpflichtung ist das Thema BEM in vielen Unternehmen und Einrichtungen nicht oder nur unzureichend organisiert. Oft wird der Prozess nicht einmal angeboten.

Zu diesem Ergebnis kam zumindest die letzte repräsentative Umfrage zum Thema aus dem Jahr 2018. Dabei sind die Vorgaben für die Ausgestaltung „vergleichsweise unbürokratisch“ geregelt, sagt Tobias Belz, Leiter des Sachgebiets Beschäftigungsfähigkeit im Fachbereich Gesundheit im Betrieb der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). „Den Verantwortlichen wird bewusst viel Gestaltungsspielraum gelassen, um einen ergebnisoffenen Prozess gestalten zu können.“ Klar definiert sind im Rahmen des BEM nur wenige Aspekte, etwa die Freiheit der berechtigten Person, das Angebot anzunehmen. Auch ob – im Fall einer Annahme – weitere Beteiligte in die Gespräche involviert werden, entscheidet die BEM-berechtigte Person.

Gut zu wissen: Betriebliches Eingliederungsmanagement

Voraussetzung:

  • Die beschäftigte Person war innerhalb von zwölf Monaten länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig und nimmt das BEM-Angebot an.

Ziele:

  • Arbeitsunfähigkeit überwinden
  • Arbeitsplatz/Beschäftigungsfähigkeit erhalten
  • Arbeitsunfähigkeit künftig vermeiden

Beteiligte:

  • Arbeitgebende bzw. Vertreterin/Vertreter
  • BEM-berechtigte Person
  • Optional (unterliegt Zustimmung der BEM-berechtigten Person):
  • Person des eigenen Vertrauens (aus beruflichem oder privatem Kontext)
  • Betriebsärztin/Betriebsarzt
  • Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa)
  • Betriebliche Interessenvertretung/Betriebsrat
  • Ggf. Schwerbehindertenvertretung

Ablauf:        

  • Kontaktaufnahme: Durch Arbeitgebende bzw. BEM-beauftragte Person, am besten vor der Rückkehr. Stimmt die BEM-berechtigte Person zu, wird ein Erstgespräch terminiert. Die Teilnahme ist freiwillig; lehnen Beschäftigte ab, endet das BEM hier.
  • Erstgespräch: Die arbeitgebende bzw. beauftragte Person informiert über Inhalt und Ziele des BEM; hier werden auch gemeinsam die weiteren Beteiligten bestimmt (s. links).
  • Weitere Gespräche: Gemeinsam mit den Beteiligten werden Einschränkungen, Möglichkeiten sowie ggf. erforderliche Maßnahmen geklärt. Dazu kann z.B. eine stufenweise Wiedereingliederung (Hamburger Modell) gehören oder die Anschaffung neuer Arbeitsmittel, die Anpassung von Arbeitsplatz und/oder Arbeitszeiten bzw. die Umstrukturierung von Arbeitsaufgaben.
  • Maßnahmen umsetzen/überprüfen: Schriftlich vereinbarte Maßnahmen werden zeitnah realisiert und mit allen Beteiligten wird geklärt, ob sie funktionieren.
  • BEM-Abschluss: Sind die vereinbarten Ziele erreicht, ist das BEM beendet. Meist führen Arbeitgebende bzw. BEM-Beauftragte ein Abschlussgespräch.

Klicktipp: Der BEM-Praxisleitfaden fasst alle wichtigen Infos zusammen.

Oft können schon kleine Maßnahmen die Arbeitsfähigkeit erhalten

Stellt sich im Erstgespräch heraus, dass Handlungsbedarf besteht, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, werden gemeinsam gezielte Maßnahmen erarbeitet. Beispielsweise dann, wenn sich die körperliche Belastbarkeit der Beschäftigten aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung verändert hat. Diese Fälle gibt es auch bei der BSR immer wieder. Bei Beschäftigten der Abfallsammlung etwa, die täglich in der Stadt unterwegs sind und die schweren Mülltonnen bewegen, sind Muskel-Skelett-Erkrankungen recht häufig. „Hier kann ein Ergebnis des BEM sein, den Beschäftigten eine Ziehhilfe für die Abfalltonnen zur Verfügung zu stellen“, so Fallmanager Schröder.

Ein Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung fegt Laub auf der Straße zusammen. Er trägt Mütze und orangefarbene Warnkleidung.
Eine BEM-Maßnahme kann es sein, den Arbeitsbeginn flexibel zu gestalten. © BSR

 

Aber selbst wenn ein Unternehmen einen BEM-Prozess etabliert hat: Erfolgreich umgesetzt wird er nur dann, wenn die Fallmanagerinnen und -manager wissen, was sie tun – und dazu gehört vor allem die Fähigkeit zu Empathie und guter Gesprächsführung. Letztere kann man lernen. Aber: „Nach meiner Erfahrung werden viele BEM-Gespräche geführt, ohne dass die Verantwortlichen entsprechend qualifiziert wurden“, so DGUV-Experte Belz. Er empfiehlt Fortbildungen aber dringend. „Viele Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen haben entsprechende Angebote, auch die Integrationsämter können hier weiterhelfen.“

In Zahlen: 40 %

aller berechtigten Beschäftigten wurde ein BEM-Angebot unterbreitet – über alle Wirtschaftsbereiche hinweg. 50 % waren es im öffentlichen Dienst.

Rund 70 % der Beschäftigten nahmen das BEM-Angebot an.

Quelle: Repräsentative Erwerbstätigenbefragung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) aus dem Jahr 2018

Interne und externe Fortbildungen für alle Teammitglieder des BEM

Bei der BSR wird das sechsköpfige BEM-Team bei Bedarf von anderen Beschäftigten unterstützt. Interne und externe Aus- und Fortbildung ist für alle obligatorisch. „Außerdem findet regelmäßig eine Supervision statt, um unsere Arbeit zu reflektieren“, sagt Philipp Schröder. Auch der interkollegiale Austausch sei wichtig, etwa mit dem betriebsärztlichen Dienst. Darüber hinaus sind immer mehr der hauptamtlichen Fallmanagerinnen und -manager geprüfte Disability­-Managerinnen und -Manager, kurz CDMP, ergänzt Annett Schlesier. Sie ist Leiterin des Kompetenzcenters Gesundheit der BSR, das auch das BEM einschließt.

Warum die BSR das Thema so hoch hängt und sich im Jahr 2011 entschieden hat, die BEM-­Koordination über eine eigene Fachabteilung zu organisieren, erklärt Schlesier so: „Wir sind kein Start-up. Diese Struktur hat sich bewährt, um alle Beschäftigten zu erreichen.“ Sie nennt eine weitere Besonderheit: „Bei uns wird das BEM direkt aus dem BEM-Team heraus ange­boten und nicht von der zuständigen Führungskraft. Weil wir das Thema innerhalb dieses Teams bündeln, konnten wir eine unglaubliche Expertise aufbauen.“

BEM-Team und Führungskräfte sind regelmäßig im Austausch

Das BEM werde „losgelöst von den Führungskräften angeboten, aber auch gemeinsam mit den Führungskräften durchgeführt“, so Schlesier. Wie das funktioniert, beschreibt beispielhaft Ricarda Canyurt. Sie ist Regionalleiterin im Bereich Recyclinghöfe und regelmäßig mit dem BEM-Team in Kontakt – etwa, um sich beraten zu lassen. „Natürlich kann auch ich als Führungskraft eine Vertrauensperson für die Kolleginnen und Kollegen sein“, so Canyurt. „Aber mir fehlen teilweise die Kompetenzen, um gezielt auf gesundheitliche Probleme zu reagieren. Da ist der Austausch mit dem BEM-Team eine große Hilfe.“

Das BEM-Team wiederum setzt auf die Expertise der Führungskräfte, wenn es um die Umsetzung von Maßnahmen geht. Soll zum Beispiel besagte Ziehhilfe in der Abfallentsorgung eingeführt werden, wird der Führungskraft die Maßnahmenverantwortung übertragen. „Die Vorgesetzten können die Arbeitsleistung ihrer Teammitglieder besser einschätzen als wir“, so Philipp Schröder.

Drei nebeneinander gestellte Porträts von Führungskraft Ricarda Canyurt, dem BEM-­Beauftragten Philipp Schröder und Kompetenzcenter-Leiterin Annett Schlesier von der Berliner Stadtreinigung. Alle tragen orangefarbene Warnkleidung.
Ricarda Canyurt, Philipp Schröder und Annett Schlesier (von links) von der BSR. © BSR

 

Gleichzeitig sollte die Führungskraft im BEM-Prozess das Gespräch mit ihrem Team suchen – auch, um Konflikte zu vermeiden. „Kann ein Kollege nicht mehr die volle Leistung erbringen, muss man in einem ehrlichen Austausch klären: Können die anderen Kolleginnen und Kollegen das zeitweise auffangen?“, so Canyurt. Meist sei die Bereitschaft groß, sich gegenseitig zu unterstützen. Auch vonseiten der Führungskräfte, bekräftigt die Regionalleiterin: „Das ist für mich Teil der Wertschätzung. Gerade wenn jemand 30, 40 Jahre für uns gearbeitet hat, sortiert man die Person nicht einfach aus, wenn sie nicht mehr so kann wie früher.“ Auch DGUV-Experte Belz betont, dass die Unterstützung der Führungskräfte beim BEM ganz entscheidend ist.

Impulse: Als Führungskraft das BEM mitgestalten

Sollten Führungskräfte Teil des BEM-Teams sein?

  • Grundsätzlich können auch Führungskräfte als BEM-Beauftragte fungieren.
  • Aber: Es ist nicht immer empfehlenswert, dass Beschäftigte mit ihren direkten Vorgesetzten BEM-Gespräche führen.
  • Die BEM-berechtigte Person könnte gehemmt sein, offen über Einschränkungen und Sorgen zu sprechen, weil sie berufliche Nachteile befürchtet.

Wie können Führungskräfte den BEM-Prozess unterstützen?

  • Beschäftigte nach längerer Arbeitsunfähigkeit fragen, wie es ihnen geht, und Hilfe anbieten.
  • Aufgeschlossen sein für die Maßnahmen, die sich im Rahmen des BEM ergeben und eine positive Grundhaltung dafür im Team schaffen.
  • Risiken, die im BEM-Prozess ermittelt wurden, ggf. künftig für alle minimieren.
  • Den Erfolg von BEM-Maßnahmen prüfen (z.B. Tragehilfen, flexible Arbeitszeiten) und ggf. für das ganze Team etablieren.
  • Den Dialog mit dem BEM-Team und bei Bedarf zusätzliche fachliche Unterstützung suchen (zum Beispiel beim zuständigen Unfallver­sicherungsträger oder beim Integrationsamt).
  • Das BEM im Team bekannt machen und Beschäftigte ermuntern, es im Bedarfsfall auch zu nutzen.

Spagat zwischen Fürsorgepflicht und Verantwortung bewältigen

Doch natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Möglichkeiten des BEM ausgeschöpft sind und die aktuelle Tätigkeit trotzdem nicht mehr ausgeübt werden kann. Bei der BSR können diese Beschäftigten mit gesundheitsbedingter Leistungsminderung in neue, leidensgerechte Tätigkeiten innerhalb des Unternehmens vermittelt werden. Auch dies übernimmt das Kompetenzcenter Gesundheit. Hierbei müssen Führungskräfte neben der Fürsorge auch die betriebliche Verantwortung im Blick behalten. „Das ist definitiv ein Spagat und eine der Herausforderungen“, sagt Schlesier.

Herausfordernd seien für alle Beteiligten auch die sich verändernden Fallkonstellationen. „Was wir heute erleben, insbesondere nach der Corona-Pandemie, sind multiple Problemlagen. Zunehmend sind es auch die jüngeren Beschäftigten, die sehr komplexe Themen mitbringen – auch psychische“, sagt Schlesier. In diesen Fällen versucht das BEM-Team, ebenfalls zu unterstützen. „Teilweise kann es helfen, im Arbeitsalltag Anpassungen vorzunehmen und sogenannte Entlastungsgespräche durchzuführen“, so BEM-Fallmanager Philipp Schröder. Auch kann das Team an die Betriebliche Sozialberatung verweisen. Über die Beraterinnen und Berater kann Beschäftigten zum Beispiel in akuten Situationen schnellere Unterstützung vermittelt werden.

Klicktipp

Interview: Gute BEM-Praxis hat viele Vorteile

Am Beispiel der BSR wird deutlich: Nimmt ein Unternehmen das Thema BEM derart ernst, fließt Zeit und somit auch Geld in die Umsetzung. Aber laut den Verantwortlichen lohnt es sich: „Ich glaube, wir als Team haben uns einen guten Namen gemacht“, so Philipp Schröder. „Die Beschäftigten wissen es zu schätzen, dass sie uns jederzeit ansprechen können.“ Und jeder erfolgreich abgeschlossene Fall bedeutet auch: Dem Unternehmen bleibt eine verdiente Fachkraft erhalten – auch wenn sie ab sofort auf der „Familientour“ unterwegs ist.